Mit Noten lernen?
Antwort: NEIN! Bloß nicht!

Achtung, damit ist nur das Spielen nach Noten gemeint (vom Blatt spielen), aber nicht das theoretische Verständnis was Noten sind und wie sie geschrieben werden. Also kein Freischein vom Lernen!

Wer wissen möchte warum ich dieser Meinung bin, kann hier weiter lesen. Wer sich aber damit zufrieden gibt, und wahrscheinlich auch glücklich darüber ist, braucht das hier nicht lesen.

Muss man nach Noten spielen lernen?

Eine sehr häufige Frage. Und ich behaupte für Einsteiger sowie Anfänger: NEIN! (Wie viele Lehrer jetzt wohl aufschreien mögen?) ABER, nur das reine Abspielen von Noten ist damit gemeint, die Theorie sollte sich trotzdem angeschaut werden (auch wie Noten geschrieben werden natürlich!).

Ich beziehe mich hierbei auf Hobbygitarristen (ein dehnbarer Begriff). Für angehende Musiker sind Noten und "Vomblattspiel" allerdings eine Unumgänglichkeit.

Wieso nein?

Noten lesen, und versuchen danach zu spielen, ist um ein vielfaches schwieriger, als das gleichzeitige Lernen von Sprechen UND Lesen UND Schreiben einer Sprache zusammen! Allein schon die Masse! Klar es gibt viele Worte, aber nur 30 Buchstaben. Bei der Gitarre ca. 48 Töne (Noten-Buchstaben; 4 Oktaven). Aber halt! Jetzt haben fast alle Töne zwei Namen! Schon sind es 96! Aber jetzt geht's erst los, denn jeder Ton kann verschieden lange klingen, also zusätzlich (sagen wir mal bis 16tel Noten) mal fünf. 5 x 96 = 480 Buchstaben im Noten-Alphabet der Gitarre.

Zählt nicht wirklich, aber um noch zwei weitere wichtige zu nennen ... jede Note kann punktiert sein und oder eine Triole bilden: 2 x 2 x 480 = 1.920

Auf der Gitarre sind auch viele doppelt, und man muss sich überlegen, wo man mit der Hand am besten spielt, damit man schnell zu anderen kommt (Lagen, Fingersätze). Das wird nicht mit den Noten vermittelt (teilweise werden Hinweise dazu geschrieben). Weiter geht es mit Betonungen wie lauter, leiser, staccato, gedämpft, etc., oder Spieltechniken wie Hammering, Slides, Bendings, etc. Die rechte Hand zum Anschlagen und Zupfen fehlt bisher auch noch. Bei einem Klavier ist es schon um einiges einfacher (jedenfalls am Anfang).

Und es gibt noch eine Menge mehr Zeichen, einige (wirklich sehr wenige davon) könnte man auch mit Satzzeichen beim Lesen & Schreiben der Sprache vergleichen.

Was passiert denn alles beim Spielen nach Noten?
  1. Das Auge nimmt die Linien und Punkte wahr.
  2. Das Gehirn ackert eine ganze Weile, bis ein einzelner Punkt identifiziert wird.
  3. Vorzeichen checken und dem Punkt einen Namen geben.
  4. Nun schaut man auf die Gitarre, neues Bild wird übermittelt.
  5. Das Hirn arbeitet vom Sattel aus die Punkte der Gitarre durch, und nach einigen Minuten findet man schließlich den Ton.
  6. Jetzt kommt ein Gedanke: "Es gibt mehrere Oktaven."
  7. Nochmalige Überprüfung ob denn auch die Höhe stimmt.
  8. Muskeln werden angesteuert.
  9. Arm und Finger bewegt sich, und drückt endlich den Ton.
Wer jetzt meint, dass wäre schon alles ... weit daneben, denn jetzt geht's richtig los!
  1. Bewegungsimpuls rechte Hand.
  2. Saite wird angeschlagen.
  3. Ein Ton erklingt! Oh Gott, Gehör!
  4. Ton wird mit bekannten Tönen aus der Welt verglichen und eingestuft (klingt gut, klingt schlecht, Assoziationen werden geweckt).
  5. Ton wird mit der Bewegung verbunden.
  6. Ton wird mit der Stelle auf der Gitarre verbunden.
  7. Ton wird mit der Note auf dem Papier verbunden. (Klar, auch noch als Letztes :)
  8. Aber, höchste Priorität: Stelle zum Drücken muss auswendig gelernt werden, weil jetzt kommt der Nächste, und alles von vorn ... nein Danke.
  9. Huch! War da nicht noch was mit der Dauer, Rhythmus, und äh?
Jetzt noch einmal alles mit der nächsten Note. Jetzt klingen schon zwei Töne hintereinander, neue akustische Eindrücke müssen verarbeitet werden, z.B. klingt dieses Intervall gut? Wenn ja, kann sich das eh nicht gemerkt werden.

Nach ein paar Noten des Leidens, fragt man sich plötzlich: Was spiel ich hier eigentlich?

Das ist auch nur der kleinste Teil. Jetzt also damit Worte bilden (verschiedene Notenläufe oder Akkorde), Sätze (sich musikalisch/emotional ausdrücken, Feeling), miteinander vergleichen (Gehörbildung, Klang-Pool bilden), damit arbeiten (Schaffen). Und bisher haben wir nichts über richtige Musik gelernt ("Wie spiel ick jetzt Rock?" FRUST). Das dauert milde gesagt viele Monate! Und ich behaupte ohne Notenlesen ist man sogar besser dran. Notenspielen verleiten vielmehr zu sagen "Zu schwer und zu anstrengend, Gitarre ist schei...!", und sie weg zu legen oder gar verschenken. Und dann noch eventuell der schlimmste Fall, nachdem man sich durch die ersten Töne durchgebissen hat: "Ist das ein blödes Stück! Ich will Rock! Und nicht das Präludingsbums von Bach!"

Eine Gefahr

Wer nur Noten lernt, verlässt sich immer mehr auf sie (wie auch jene, die nur nach Tabulatur spielen). Gute Spieler und Solisten jeder Musikrichtung lesen keine einzelnen Noten, sie werden als Orientierungshilfe in ganzen Sätzen gesehen. (Habe ich mir mal sagen lassen :-)

Was also tun?

Nachspielen, Abgucken, einfache Übungen und Spaß haben! Es gilt die Gitarre, Töne und Bewegungen kennen zu lernen, und diese mit etwas Schönem zu assoziieren, z.B. die Musik die man spielen möchte. Da lernt man spielerisch (im wahrsten Sinne des Wortes) mehr Zusammenhänge, als beim mühevollen Notenabspielen. Vorsicht, dass ist kein Freischein für nicht lernen :-) Nach jeder dieser motorischen, klanglichen und emotionalen Entdeckungsreise, sollte die Neugierde auf das "Warum klingt es gut?" ein wenig mit der Theorie abgedeckt werden. Also von Anfang an schon ein wenig an die Theorie heranpirschen. Dann kommen so Dinge wie Harmonisieren ("Ach, die Akkorde passen also in einer Tonart recht gut zusammen" oder "So bekommt man Akkorde zu einer Melodie") oder Skalen und Tonleitern ("Oi, hier sind die Töne aller Tonarten auf der Gitarre. Ist ja gar nicht so schwer.").
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